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Grundwerte, ohne die kein Volk seine Identität behaupten kann. Daher gedenken wir
heute in tiefer Ehrfurcht und Bewunderung jener ausgezeichneten Menschen, die mit
ihrem Leben für die Erhaltung dieser Werte eingetreten sind, als sie durch gewissenlose
Machthaber dem größten Missbrauch ausgesetzt waren.
Wir haben überlebt. Haben wir auch überwunden? Die gegenwärtig so oft gehörte
Frage: Kann sich dieses unerhörte Geschehen wiederholen, verrät viel von der
Unsicherheit, vor der wir im Blick auf unsere Vergangenheit und unsere Zukunft stehen.
Die nicht endende Diskussion um die Grundwerte macht es überdeutlich, dass der
eigentliche Schaden jener mörderischen Jahre erst jetzt wirklich wahrgenommen wird
und in seinen nationalen wie globalen Wirkungen ins Bewusstsein dringt. Verloren
gegangen ist uns die Selbstverständlichkeit, mit der wir unsere Existenz geborgen und
hingeordnet wussten auf die transzendente Realität des lebendigen Gottes, des
alleinigen Herrn über Leben und Tod. Die neue Erfahrung ist die, dass wir – trotz aller
aufgeklärten wissenschaftlichen Erkenntnisse über unser ganzes Dasein – die innere
Gelassenheit nicht wiederfinden können, mit der wir uns bisher im Sinn des Ganzen
aufgehoben gefühlt haben. Es gelingt uns nicht, die für unser gemeinsames Leben
unentbehrlichen Richtlinien aus eigener Kraft zu erstellen. Wir wissen, dass wir das
Gute tun sollen; aber wenn es Gott nicht gibt, gibt es auch das Gute nicht – so hat es
Sartre uns in der Mitte des letzten Jahrhunderts verkündet. Mit anderen Worten, hat
sieben Jahrhunderte früher Thomas von Aquin dasselbe gesagt, als er das viele Böse
als Grund angab für den Unglauben so vieler.
Wir haben überlebt. Haben wir auch überwunden? Diese Frage führt tief in das Herz des
je eigenen, des individuellen Erlebens und berührt doch das gemeinsame Leben aller.
Überwinden musste jeder von uns in immer neuen Anläufen die Angst vor dem Tod,
dem leiblichen und dem seelischen, vor dem Untergang des eigen Ich, meiner Person,
des Wissens um die eigene Identität. In diesen sich in tiefer Innerlichkeit abspielenden
Kämpfen ging es immer noch einmal darum, das eigene Dasein um seines einmaligen
Wertes willen zu bejahen. Dieser Wert, der jahrelang den Angriffen einer zerstörerischen
Ideologie ausgesetzt war, hatte sich uns dennoch wieder und wieder kundgemacht in
allem, was uns innerlich ja als Glück, als Sinn, als Schönheit und Wahrheit, als kostbar,
berührt hatte – ob im Kleinen oder Großen: Im Staunen über eine eben erblühte Rose
oder über die Pracht des nächtlichen Sternenhimmels, in der Erfahrung von
Freundschaft und Vergebung, von Liebe und Vertrauen, das andere uns schenkten;
Erfahrungen schließlich am Rande des von allen Seiten gefährdeten Daseins, dass wir
nicht allein gelassen sind, weil der mächtigere Herr des Himmels und der Erde seine
Weise hat, uns nahe zu sein.
Aus der Quelle dieser Erfahrungen, die ja nicht unser Werk waren, sondern uns
geschenkt wurden, nährten sich der Mut und die Kraft, dem eigenen Untergang in immer
neuen Variationen entgegen zu sehen, entgegen zu gehen, von der Gewissheit
getragen, dass das, wovon unser Herz berührt wurde, von keinem Tod uns genommen
werden kann.
Die vielen autobiographischen Zeugnisse aus den Todeszellen bezeugen dieses
dramatische, für uns alle verborgen bleibende Ringen jedes Einzelnen um den Sieg des